ISIS-Terroristen

Bericht der New York Times enthüllt So funktioniert das ISIS-Terrornetz in Deutschland

  • Von: BJÖRN STRITZEL

Islamische Konvertiten, die als Mittelsmänner funktionieren. Verdeckte ISIS-Agenten in Europa. Selbstmordattentäter, die gezielt rekrutiert werden. Ein brisanter Bericht in der New York Times enthüllt die Vorgehensweise des Terrornetzwerkes in Europa – und Deutschland.

Im Kern des Artikels von Rukmini Callimachi, Terrorexpertin der New York Times (NYT), steht ein Interview mit dem deutschen ISIS-Kämpfer Harry Sarfo, der mittlerweile in Deutschland in Haft ist.

Harry Sarfo mit der schwarzen Flagge der Terrormiliz ISIS

Der Bremer, aufgewachsen als Sohn christlicher Einwanderer aus Ghana, wurde der Polizei schon früh bekannt. In einem Video einer salafistischen Organisation erzählt Harry Sarfo seinen Werdegang: Im frühen Jugendalter habe er die ersten Einbrüche begangen, mehrfach wird er inhaftiert.

Schließlich zieht er nach London, kommt dort mit Islamisten in Kontakten, konvertiert zum Islam. Nach einem weiteren Wohnortwechsel zurück nach Bremen überfällt er gemeinsam mit Adnan S. ein Ehepaar, verlangt Lösegeld. Im April 2015 reisen die beiden Bremer Dschihadisten nach Syrien aus. 

Sarfo – zusammen mit anderem Deutschen in Syrien

Bekanntheit erlangte Harry Sarfo durch ein Video, welches ISIS vor fast genau einem Jahr veröffentlichte. In diesem ermorden der österreichische Dschihadist Mohamed Mahmoud und der Bonner Yamin Abou-Zand zwei angebliche syrische Soldaten. Auch Sarfo und sein Freund Adnan sind in dem Video zu sehen.

Im Interview mit der NYT erzählt Sarfo über die Entstehung des Videos: Man sei in Palmyra mit zwei Wagen voller Kämpfer zu einem Hinrichtungsplatz gefahren. „Ein Wagen wurde vom Österreicher gefahren“, erzählt Sarfo im Interview. Tatsächlich scheint Mohamed Mahmoud im Video allerdings auf dem Rücksitz eines Pickups zu sitzen. 

„Er fragte uns, wer die Gefangenen exekutieren will“, sagt Sarfo zur NYT. Alle hätten daraufhin die Hände gehoben, nur er selbst nicht. Daraufhin hätten die anderen Dschihadisten ihn gefragt, warum er dann hier sei. Sarfo habe dann eingewilligt, die Flagge im Video zu tragen.

Sarfo kehrt zurück, wird festgenommen

Im Juli 2015 kehrt Sarfo nach Deutschland zurück und wird verhaftet. Einige Tage später veröffentlicht ISIS das Mordvideo aus Palmyra. Mittlerweile ist Sarfo zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, hat nach eigener Aussage mit der Terrormiliz gebrochen.

Was er im Interview mit der NYT enthüllt, ist brisant: Demnach verfügt ISIS über mehrere Undercover-Terroristen in Europa, die aber nicht selbst zuschlagen.

Undercover-Terroristen in Europa

Im NYT-Interview vermutet Sarfo zudem, was seit langem vermutet wird: Hinter den „Auslandsoperationen“ der Terrormiliz steckt ihr Sprecher Abu Muhammad al-Adnani. Der Syrer, eines der ranghöchsten ISIS-Mitglieder nach dem „Kalifen“ al-Baghdadi, gilt als höchste Instanz, wenn es um Anschläge im Ausland geht. Einer seiner Helfer soll ein Franzose namens Abu Sulayman sein, der für die „Operationen“ in Europa zuständig sei.

Ob dieser allerdings tatsächlich wie in der NYT berichtet erst nach dem Tod Abdelhamid Abaaouds – des Kopfs der Pariser Terrorzelle in diese Position aufrückte – ist fraglich. Möglicherweise hatte Abu Sulayman diese Position bereits zuvor inne und Abaaoud angeleitet.

Sarfo in Deutschland gefasst

Nachdem er zwei Tage in Syrien gewesen sei, fuhr ein schwarzer Geländewagen vor. Die Insassen waren Mitglieder des Amniyat, des ISIS-Geheimdienstes. Sie hätten ihn angesprochen, ob er nicht einen Anschlag in Deutschland verüben wolle, erzählt Sarfo. Dies habe er verneint.

Einer seiner Begleiter hätte sich daraufhin nach der Situation in Frankreich erkundigt, woraufhin die Amniyat-Leute anfingen zu lachen: „Sie hatten Tränen in den Augen.“

Denn in Frankreich hätte ISIS bereits mehr als genug Leute platziert, um Anschläge zu verüben. Nur wenige Monate später tötete die Pariser Zelle um Abaaoud 130 Menschen in der französischen Hauptstadt.

Deutsche ISIS-Kämpfer

Kriminelle werden gezielt von ISIS rekrutiert

Dabei würden die ISIS-Rekrutierer mit System vorgehen, so Sarfo. Gesucht würden vor allem Kriminelle, die schon Zugang zu kriminellen Strukturen hätten. Auch mehrere Mitglieder der Pariser Zelle um Abaaoud waren zuvor schon als Kleinkriminelle bekannt – und Sarfo schien mit seinem Vorstrafenregister ebenfalls in das Raster der Terrorgruppe zu passen.

Ein deutsches ISIS-Mitglied im Irak betrachtet die Aussagen Sarfos allerdings eher skeptisch: „Es ist sehr ungewöhnlich, dass Leute unmittelbar nach ihrer Ankunft in Syrien rekrutiert werden“, so der Deutsche zu BILD. „Die Leute werden vom Geheimdienst erst einmal richtig durchleuchtet und müssen einen Plan vorlegen. Die Deutschen wurden alle abgelehnt.“

Der Grund: Ist der Anschlagsplan nicht überzeugend, vermutet der ISIS-Geheimdienst, dass der Rekrut nur nach einem Vorwand sucht, um aus dem „Kalifat“ zu flüchten.

Im NYT-Interview berichtet Sarfo weiter, dass ISIS gezielt Anschlagsplaner nach Europa entsendet. Diese würden aber Angriffe nicht direkt selbst in Auftrag geben. „Sie nutzen neue, radikalisierte Konvertiten“, so Sarfo. Diese seien „sauber“, die Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden hätten sie also nicht als Terroristen auf dem Radar.

Diese „sauberen Mittelsmänner“ würden dann Kontakt zu jenen radikalen Islamisten im Westen aufnehmen, die bereits über das Internet mit ISIS-Leuten in Syrien in Kontakt stehen und die zu einem Anschlag bereit sind.

Die verdeckten Anschlagsplaner würden dann über die sauberen Mittelsmänner den willigen Terroristen bei den Vorbereitungen des Angriffs helfen, etwa durch Waffen- und Sprengstofflieferungen oder Auswahl des Ziels.

Deutschland im Visier

Zusammenhang mit Angriffen in Deutschland?

Möglicherweise wurde auch den ISIS-Terroristen Riaz Khan und Mohammad Daleel auf diese Weise assistiert. Khan hatte in einem Zug nahe Würzburg mit einer Axt mehrere Menschen angegriffen und schwer verletzt, bevor er von der Polizei erschossen wurde.

Einen Tag später veröffentlichte ISIS ein Video des Axt-Terroristen, in dem dieser sich zu der Gruppe bekannte. Nach Angaben der Ermittler stand Riaz Khan bis kurz vor der Tat mit einer Person im Nahen Osten in Kontakt.

Und auch im Fall des Ansbacher Selbstmordattentäters gibt es offene Fragen: So behauptete ISIS in einer später veröffentlichten Würdigung, dass die Polizei Mohammed Daleels Unterkunft durchsucht, dessen Bombe aber nicht gefunden habe.

Hintergründe zu den ISIS-Angriffen in Deutschland

Möglicherweise will ISIS mit dieser Behauptung jedoch gezielt von eigentlichen Herkunftsort der Bombe ablenken:

Denkbar ist, dass Daleel nicht wie von der Terrormiliz behauptet, drei Monate an seinem Sprengsatz bastelte, sondern dieser ihm von einem „sauberen Mittelsmann“ ausgehändigt wurde oder Daleel anderweitig Hilfe erhielt.

Bayerns Innenminister Herrmann bestätigte einige Tage nach der Tat, dass Daleel bis unmittelbar vor dem Anschlag mit einer Person in Kontakt stand, die „intensiv Einfluss auf das Tatgeschehen“ nahm.

Sollten die Schilderungen von Harry Sarfo gegenüber der NYT stimmen, wären die ISIS-Anschläge der vergangenen Wochen zwar immer noch von einzelnen Tätern ausgeführt. Ein eventuell dahinter stehendes Netzwerk aufzudecken, das die Terroristen unterstützte, dürfte eine dringende Aufgabe für die Sicherheitsbehörden sein.


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